Donnerstag, 18. Februar 2016

Blumen

Blumen lieben sie


Die Schneeglöckchen blühen und auch die ersten Krokussspitzen habe ich schon auf den Wiesen entdeckt. Heute meinte ich sogar einen gelben Forsythia-Strauch gesehen zu haben. Ist das möglich? Samtweiche Weidenkätzchen gibt es auf jeden Fall schon wieder. Der Frühling kommt! – Auch wenn es gestern ganz dicke, große Schneeflocken geschneit hat. Oft überlege ich, worüber ich in diesem Blog schreiben soll. Diesmal fällt es mir leicht.

Es gab mal eine Schriftstellerin aus Leipzig. Ihr Name war Marianne Bruns. Und diese Schriftstellerin hat tatsächlich ein Buch über Raum geschrieben. Zugegeben, ich wüsste dies nicht, wenn es mir nicht meine Schwiegermutter in die Hand gedrückt hätte. Und ich hätte es selbst dann nicht bemerkt, wenn sie nicht dazu gesagt hätte, dass es ein Buch über Raum ist. Aber jetzt weiß ich es ja. Das Buch heißt "Nahe Ferne" und trägt die Widmung "Mura – Erinnerung an eine Landschaft". Mit Mura ist Raum gemeint. Die Buchstaben sind nur ein bisschen durcheinander geraten.

Das Buch erzählt von Menschenschicksalen, Gewittern, Blumen, Waldwinkeln, Pilzen .... Marianne Buns hat die Menschen so beschrieben, wie sie sie tatsächlich erlebt hat – nichts hat sie erfunden. Lange hat sie ihre Niederschriften beiseite gelegt, weil sie meinte, dass das, was sie aufgeschrieben hat, die Beschriebenen vielleicht befremdet hätte. Aber letztendlich wurde das Buch 1989 doch veröffentlicht. Eine Erzählung des Buches habe ich für diesen Blog herausgepickt:

Blumen

Es versteht sich keiner in Mura auf bildende Kunst. Wenn man ihnen ein Aquarell von Nolde oder van Gogh zeigte und daneben eine Postkarte mit der billigen mißfarbigen Blumenpinselei eines Pseudokünstlers, so würden sie sicherlich Nolde ablehnen, aber die Postkarte schön finden, sofern sie nur deutlich erkennbar die Tulpe oder die Heckenrose darstellte. Und doch verstehen sie sich in Mura auf die Schönheit der Blumen. Besonders die Frauen.

Es wird viel und manchmal schwer gearbeitet. Sie haben es nicht leichter als in der Stadt, aber es gibt dort eine Lebensstimmung, die in der Stadt nicht mehr gedeihen will: Sie haben Muße. Am Abend vor dem Schlafengehen oder auch am Tag zwischen zwei Verrichtungen verharren sie zuweilen in entspanntem Stillestehen. Solche Muße – das ist nicht Trägheit, nicht Stumpfsinn, nicht Leere. Es ist eine ruhige, innere Bereitschaft zur Freude, ein unbewußtes Horchen in sich hinein, ein stilles Vorbereiten auf künftiges Tun. Und in dieser Stimmung betrachten sie ihre Blumen oder das Gärtchen des Nachbarn.

Sie sind nicht sprachgewandt, die Leute von Mura; ungewohnte Namen verdrehen oder vergessen sie, aus der deutschen Sprache ist ihnen nur ein geringer Bruchteil geläufig, und Fremdworte bleiben den meisten unbekannt. Aber die Namen von Blumen, so sonderbar sie sein mögen, gehen ihnen leicht vom Munde, nicht nur die deutschen; sie sprechen auch von Zentifolien und Lobelien, Pelargonien, Pyrätrum, Begonien, Petunien, Fuchsien, Azaleen und Balsaminen. Das macht die Liebe. Wer liebt, lernt im Handumdrehen. Und Blumen lieben sie.

Da wohnt eine Frau in einem Haus an der Straße, ältlich, gelblich, nichtssagend, eher unfreundlich, die hat sich zwischen dem Haus und dem Graben am Straßenrand einen kleinen, uneingezäunten Vorgarten von solcher Dichte und Farbkraft angelegt, daß die Vorübergehenden wie geblendet stehen bleiben. Dann kommt sie wohl aus dem Hause oder hebt langsam den Kopf, wenn sie ohnehin in der Nähe war, und gibt gelassen Auskünfte.

Die Fuchsie – sie steht im Hintergrund in einem großen Steintopf, ein wahres Baumgewächs voll blauer, rotberockter Gehänge – die blüht schon lange. Und die Karthäusernelken: Karmin, purpur, brandrot – wo sind nur die herrlichen Farben her? Ausgewählt, sagt sie. Und auch die Stiefmütterchen: aus Samen. Sie sind groß und von edelsten Sammetfarben, aus Gold und Kupfer gemischt, auch weiß, auch blau, wie aus Festgewändern geschnitten. Ach, und die weißen Nelken, wie sie das Mäuerchen herabhängen! Und der rote hängende Phlox! Kressen in wildem Gelb und Orange drängen ihre gespornten Blüten zwischen die Tellerblätter von frischem und frechem Grün. Hier waren Primeln, sagt die Frau, ich habe schöne Farben dabei! Der Goldlack ist auch verblüht ... Es gibt blaue Polster von Lobelien, ein so reines, kräftiges Blau ist selten; und es gibt gelbe Polster von Mauerpfeffer. Tulpen, Hängendes Herz und Akelei und Trollblumen und Gartenmohn, sagt sie – verblüht, und die Pfingstrosen auch. Aber das blütenleere Grün ist zurückgesunken unter die Farbenglut der Sommerblüher. Hinten stehen die hohen Blumen, die strotzenden, gewaltigen: weiße Riesensterne – die Margeriten, Rittersporn, zartes Türkisblau, ins Perlmuttrote opalisierend, Eisenhut, schwerblau, ohne Leuchtkraft. Und Rosen! Bauernrosen, rot, dickvoll, duftend, Inbegriff des ländlichen Sommers! Es sind auch starre große Glockenblumen da, wie aus Seidenpapier ungeschickt gefertigt, und die rosa Sternblume mit dem Blütenblätterfellchen in der Mitte: Pyrätrum, zu schwer für den haltlosen Stengel; Löwenmaul blüht in hellem Gelb und bräunlichem Rot, und Zinnien entfalten schon ihre steifen, vornehm getönten Rosetten, für deren Farben man kaum Namen weiß: trübrosa, zimtüberpudertes Rot, Purpur, angebräuntes Lila, Wüstengelb, ein Weiß, etwas grünlich, wie das Fruchtfleisch von Gurken. Es sind gläserne Blumen da und seidige, rubinrot und rotweinfarben, orangen und purpurn, manche wie schwerer, dunkler Tee.

Und das alles sehen die Leute von Mura genau. Sie vergleichen den Farbton einer Blüte, die drei Häuser weiter im Garten steht, mit dem der Blume vor dem eigenen Haus, und ist ihnen auch das Wort fremd, das die seltene Farbe bezeichnen könnte, so ruhen sie doch nicht, bevor die gleiche im eigenen Garten leuchtet. Ist es nicht sonderbar, daß aus einem Stück grober, dunkler Erde so viele verschiedene Farben und so zarte Blütenblätter hervorwachsen können?
Erst zaudert sie, die Unfreundliche. Wer macht denn solche Worte! Ungewohnte Worte sind verdächtig. Aber plötzlich stimmt sie lebhaft zu: Das ist wahr, da habe ich mich auch schon oft gewundert ...
Und der Duft! Und jede riecht anders ...

Aus "Nahe Ferne" von Marianne Bruns (Union Verlag Berlin)

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